Eine Frau mit Weitsicht?
Man wird alt. Man und im Besonderen ich. Nicht dass
ich mich jetzt über meine krummen Beine mit sämtlichen Folgeerscheinungen ergießen
würde – nein! – auch meine Äuglein beginnen schön langsam müde zu werden. Ging
ich bisher recht blauäugig, aber durchaus mit einem gewissen Weitblick durchs
Leben, so habe ich seit Längerem Schwierigkeiten damit, manche Dinge richtig zu
sehen und zuzuordnen. Aber das wird ja wohl nicht SO ein Problem sein, oder?
Na gut, vielleicht kam es mal vor, dass ich auf der
Weihnachtsfeier ein bisschen unfreundlich reagierte, als man mir ein Badeöl mit
der Aufschrift „Hautarzt“ schenkte. Vielleicht hab ich dort die Chefin etwas
angepöbelt, was sie sich einbilde, mir zu unterstellen, ich würde einen
Hautarzt benötigen – bei meinem rosa Teint. Vielleicht hat sie sich dann
peinlich berührt entschuldigt und vielleicht hab ich dann zuhause, bei besseren
Lichtverhältnissen, gesehen, dass nicht „Hautarzt“, sondern „hautzart“ oben
stand und dass alle anderen auch so ein nettes Badeöl bekommen haben und
vielleicht bin ich draufgekommen, dass das ganz eine liebe Geste von der Chefin
war….
Na gut, oder vielleicht kam es mal vor, dass ich im
Geschirrspüler den falschen Knopf gedrückt habe und vielleicht hat er mir dann
nicht die obere, dreckige Lade gespült, sondern die untere, leere. Und vielleicht
hab ich ihn dann aufgerissen und mich geärgert, dass der Gschirrli jetzt auch
schon wieder kaputt ist und vielleicht habe ich dann den Kundendienst verärgert
angerufen und dem Mitarbeiter mal ordentlich den Marsch geblasen, dass dieses
Gerät schon wieder nicht funktioniert.
Na gut, und vielleicht kam es mal vor, dass ich völlig
entsetzt den Christbaum meiner betagten Eltern gesehen und mir gedacht habe,
die sind wohl jetzt von allen guten Geistern verlassen, weil sie dort Würstel
draufgehängt haben. Vielleicht habe ich sie dann ein bisschen entsetzt angeschrien,
was denn mit ihnen los sei, dass sie jetzt kleine Frankfurter auf den Baum
hängen und ob ihnen denn gar nix mehr heilig sei. Vielleicht hab ich da erst zu
spät gesehen, dass es sich um rosa Kerzen handelte, die da am Baume thronten
und mich dann bei meinen Oldies entschuldigt. Die haben Gott sei Dank noch alle
Tassen im Schrank (im Gegensatz zu mir…).
Na gut, und vielleicht kam es mal vor, dass ich in der
Arbeit eine Adresse auf einem Personalausweis nicht so ganz richtig lesen
konnte, vielleicht hab ich mal jemandem statt 179,-€ das Zehnfache verrechnet,
weil alles so durcheinanderging am Compi und vielleicht hab ich mal die
Praktikantin alle Kontoauszüge laut vorlesen lassen, weil die Zahlen doch
heutzutage sooo klein gedruckt sind und vielleicht hab ich auch mal das falsche
eingekauft, weil ich die kleinen Unterschriften auf den Packungen nicht mehr
lesen konnte und vielleicht hab ich mich auch mal bei meiner Lieblingszeitung
beschwert und gedonnert, sie müssten jetzt doch nicht auch noch beim Druck ihrem
Namen alle Ehre machen und die Buchstaben sooo KLEIN darstellen…
Na gut, vielleicht. Aber ist das gleich ein Grund für
eine Brille?
Ist es. Und ehe ich mich versehe, sitze ich auch schon
beim Augenarzt im Wartezimmer, habe die Augen eingetropft und muss mit einem
potthässlichen Brillengestell von einer futzelkleinen Tafel Buchstaben und
Zahlen wie eine Erstklässlerin ablesen. Der Arzt misst meinen Augendruck,
obwohl man das erst ab 50 tun sollte, wie ich anschließend beleidigt feststelle
und rügt mich, dass ich meine Guckerl nicht offenhalten kann ohne zu blinzeln.
Ich verlasse das Etablissement mit rinnenden Augen und
wanke direttissimo ins nächste Brillengeschäft, wo ich per Zufall zwei liebe
Freundinnen treffe (danke S. und L.!), die mich sogleich in Stilfragen bestens beraten: die jüngere
der beiden versucht es mit einer rosaroten Hexagon-Brille, die reifere rät mir
zu einer Lesebrille im Kanzleirat-Style. Der Verkäufer ist verzweifelt. Ich bin
es auch. Nach unendlichem Ausprobieren und erschrecktem Zusammenzucken
meinerseits, als ich mich mit diesen Nasenfahrrädern im gleißenden Licht des
Geschäftes sehe, gefällt uns einstimmig ein bestimmtes Model und alle atmen
erfreut auf. Dem Verkäufer fällt ein Stein vom Herzen und er bedankt sich
ergriffen bei meinen lieben Freundinnen für die Hilfe. Dann will er mir eine
Unterschrift für einen Newsletter entlocken, indem er mir vorgaukelt, dies sei
für den Datenschutz. Aber ich bin ja nur schasaugert, nicht blöd! Ich lehne
alles ab, was man mir an Vorteilsheften, -Pickerl und -Checks anbietet und hole
tags darauf meine neue Brille ab.
Aber dann beginnen die Probleme erst so richtig: ich
sehe scharf! Ich sehe alles, was ich zuvor nur mit einem milden Weichzeichner
wahrnahm: ich sehe die Chefin, ich sehe meinen verdreckten Geschirrspüler, ich
sehe, wie Frankfurter Würstel wirklich aussehen, ich sehe den Unfug auf den sozialen
Medien – und: ich sehe mein Spiegelbild! OMG!
Ich gehe zum Brillengeschäft und kaufe mir ein zweites
Modell: die rosarote Hexgon-Brille muss her! Denn mit ihr bin ich wieder die Frau
mit Weitsicht, die blauäugig durchs Leben geht. Und dieser Zustand gefällt mir
eindeutig besser.
da spricht mir jemand aus der Seele, wie sieht das mit dem Hören
AntwortenLöschenaus? Freue mich auf die Fortsetzung :), :), :)
Danke! Ich werde selbstverständlich über das weitere sukzessive Ausschleichen der anderen Sinnesorgane berichten! ;-)
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