Gott und Sch(l)af
Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn
sie groß sind, gib ihnen Flügel. Soweit so gut.
Jetzt ist er also flügge geworden, mein Großer. Er
geht fort, wirft sich auf die Piste. Legt sein lässigstes Hemd an, trommelt ein
paar Kumpels zum Vorglühen zusammen und verlässt gegen 22:00 Uhr das häusliche
Anwesen Richtung Disco. An und für sich nichts Ungewöhnliches, ich kenne ihn
ja: nach spätestens 3 Stunden steht er wieder auf der Tacke, ein bisschen
schwindelig vom Gerstensaft, aber immer noch verlässlich in seinen Handlungen:
schließt die Haustür brav ab, dreht alle Lichter aus und schleicht sich flinken
Fußes in sein Bett, ohne viel Aufhebens zu machen. Normalerweise.
2:35 Uhr: ich erwache, nachdem ich bereits die vierte
REM-Phase durchgemacht habe und bin leicht verunsichert. Hab ich heute
überhört, dass mein Großer heimgekommen ist, hat der sich heute so leise rauf
geschlichen, dass ich – der Hausdrache, der sonst alles checkt – das nicht
mitbekommen haben sollte? Komisch. Ich geh mal vorsorglich aufs WC, um mich
danach wieder voll meinem Schönheitsschlaf widmen zu können.
Bitte, lieber Gott, lass mich gleich einschlafen. Ein
Schaf, zwei Schafe, drei Schafe….
2:56 Uhr: ich mache kein Auge mehr zu, das gibt’s doch
nicht, jetzt ist der Kerl am End wirklich noch nicht zhaus? Das kann nicht
sein, da hab ich mich wohl getäuscht. Ich stehe wieder auf und probiere an der
Haustüre, ob diese von innen versperrt ist. Sie ist offen, eine erste leichte
Panik überkommt mich. Noch nie ist er so spät nach Hause gekommen. Dann tröste
ich mich mit einem Geistesblitz: er ist sehr wohl daheim, hat jedoch vergessen
zuzusperren. Ja, das wird es sein.
Bitte, lieber Gott, lass es so sein. Ein Schaf, zwei
Schafe, drei Schafe…..
3:23 Uhr: Fix Laudon, jetzt wird’s bald halb vier! Ich
gehe nochmals schauen, ob vielleicht seine Schuhe in der Garderobe stehen.
Schuhe ….hmmmmm…. Schuhe stehen einige da, kleine Schuhe, große Schuhe,
schmutzige Schuhe, elegante Schuhe. Über meine Hendlschuhe stolpere ich gleich
mal so richtig – man hat ja sonst nix zu tun mitten in der Nacht! Als ich mich
kurz vor der Kellerstiege wieder fasse und mein Gleichgewicht wiedererlange,
muss ich erkennen, dass ich keine Ahnung habe, welche Schuhe mein Großer heute
anhat und ob die jetzt hier stehen oder nicht.
Bitte, lieber Gott, lass die Schuhe hier stehen. Ein
Schaf, zwei Schafe, drei Schafe…
3:45 Uhr: Da muss was passiert sein! Vor Aufregung
muss ich erneut für kleine Mädchen, bei dieser Gelegenheit gehe ich mal die
Ereignisse der letzten Monate aus den Erzählungen meiner Kinder durch: 3
Schlägereien, 1 versuchte Vergewaltigung, 5 Alk-Vergiftungen standen da alleine
in dieser Dorfdisco auf dem Programm. Wenn mein Großer da jetzt in irgend sowas
verwickelt ist?
Bitte, lieber Gott, bring mir meinen Jungen wieder
heil nach Hause. Ein Schaf, zwei Schafe, drei Schafe….
4:14 Uhr: An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die
ersten Vögel zwitschern, es dämmert. Hoffentlich hat er nicht alles
durcheinandergetrunken und liegt schon im Spital. Und was ist, wenn ihn irgend
so ein aggressiver Rabauke niedergeschlagen hat, meinen süßen Kleinen? Da würd
ich doch informiert werden, oder?
Lieber Gott, sollte er jemals wieder heimkommen, gehe
ich zu Fuß nach Mariazell. Ein Schaf, zwei Schafe, drei Schafe….
4:48 Uhr: Ich schaue auf Gesichtsbüchl, Dekagram und
WotSepp, wann er das letzte Mal online war, bis mir einfällt, dass er mir weder
folgt, noch meine Freundschaft erwidert und gar nicht zu erkennen ist, wann er
das letzte Mal aktiv war. Aber seine Freunde! Die sind mir alter Suppenhenne zugeneigter,
weshalb ich sie auf der Stelle stalke und bloß bei einem sehe, dass er um 23:00
Uhr „angsoffn mit die Besten“ gepostet hat. Sehr beruhigend.
Bitte, lieber Gott, lass ihn keine Alkoholvergiftung
haben, ich schwöre, auch ich werde in meinem ganzen Leben nichts mehr trinken,
wenn die Sache heute gut ausgeht. Ein Schaf, zwei Schafe, drei Schafe …
5:17 Uhr: Die werden jetzt im Hintergrund sicher schon
ein Kriseninterventionsteam formieren, denn da ist mindestens ein
Verkehrsunfall oder ein Fall von schwerster Körperverletzung passiert. Das ist
nicht mein Junge. Der bleibt nicht freiwillig so lange von seiner lieben Mami
weg. DER nicht. Ich habe völlig verfrüht meinen Morgen-Stuhlgang.
Lieber Gott, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Kein
Schaf. Kein einziges mehr.
5:53 Uhr: Es kracht an der Haustüre und mein kleiner
Großer steht mit roten Backen im Türrahmen. Zu Fuß sei er jetzt ein schönes
Stück gegangen, nachdem er total nette Stunden in der Disco verbracht hätte. Es
wäre eine gelungene Veranstaltung gewesen, gar nicht gemerkt hätte er, wie
schnell die Zeit vergangen wäre…. HIMMEL !!!! Er ist wieder da: unversehrt.
Ich danke dem lieben Gott und vereinbare mit ihm, dass
er den Schwur mit der Fuß-Wallfahrt doch bitte nicht ganz so ernst nehmen
sollte und auch die Sache mit dem Nicht-Mehr-Trinken. Da hat ja schließlich
keiner was davon, wenn ich mich völlig überanstrenge bei so einem Fußmarsch
oder mir nie mehr auch nur ein Gläschen Rotwein gönnen würde. Das wäre ja ein
Blödsinn, der liebe Gott hätte das sicher nicht so gewollt…. Brot und Wein … eh
schon wissen.
Ein letztes Mal stolpere ich über meine Hendl-Schuhe, als
ich wieder zurück ins Bett zu meinen Schafen will – diesmal mit einer Talfahrt
über die Kellerstiege – direttissima in die Hölle sozusagen. Kleine Sünden
bestraft der liebe Gott nämlich postwendend.
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