Sisyphus‘ Schwester. Die zweite Kugel.
Die zweite Kugel, die ich wie Sisyphus vor mich hin rolle und nicht und nicht auf den Berg rauf bekomme, sind meine Schuhe: Vor nicht ganz einem Jahr wurden mir orthopädische Schuhe genehmigt, d.h., es werden Leisten gemacht, der Schuh wird individuell an meinen Fuß und an meine Bedürfnisse angepasst und ich darf mir Farbe und Stil im Großen und Ganzen aussuchen. Kein Herumwursteln mit Einlagen mehr, keine Kalamitäten, weil der rechte Fuß 3 Schuhnummern kleiner als der linke ist, kein Theater mehr mit Überknöcheln. Soweit wieder einmal die Theorie.
Und die Kugel
beginnt zu rollen. Rückwärts, wohlbemerkt
Zwar hatte
ich bald einen Termin zum Eingipsen der Füße, um Leisten zu produzieren, dann
aber kamen der Sommer, der Herbst und ein Zipferl vom Winter und geschehen ist
folgendes: Nichts. Die Kugel wurde schwerer und schwerer. Ja, ok, es war
Urlaubszeit und dann wieder Grippezeit und überhaupt hat der Schuhmachermeister
mit Personalmangel zu kämpfen und keiner will mehr dieses Handwerk lernen und
alles muss er selber machen. Und ja, ja, ich weiß, es ist jetzt eh überall so,
man wartet überall sehr lange auf die Sachen, aber sicher würde es bald soweit
sein.
Außerdem hab
ich ihm vielleicht einen nicht ganz so einfachen Auftrag gegeben: mein Schuh
sollte für romantische Strandspaziergänge bei Sonnenuntergang genauso geeignet
sein wie fürs Theater und fürs Casino, ich muss im Wald rumkraxeln können und
auch bei einem Begräbnis eine gute Figur machen. Also nicht bei meinem eigenen.
Da sind meine Schuhe dann eher nebensächlich. Kurzum: ich bräuchte also die berühmte
„eierlegende Wollmilchsau“. Der Schuster ist nett, ihm ist es peinlich, dass
alles so lange dauert, er ist stets freundlich und hilfsbereit, er tut ja eh,
gut Ding braucht eben Weile. Eine ganze große Riesenweile…
Ich g‘frette
mich inzwischen mit meinen alten Bergschuhen ab, die auch recht gut versteift
und eigentlich ganz bequem sind. Im Sommer vor allem bei Städtetrips mit
Meereszugang. Da trägt man doch Bergschuhe, nicht wahr? Oder im Theater und auf
Konzerten. Oder wenn ich mein Buch präsentiere. Ist eh super, wenn man an
seinen Füßen zwei Klotze hat, die sich wie Beton anfühlen und in denen es heiß
ist wie in einem Bärenarsch.
Und die Kugel
rollt zurück…
Irgendwann
dann – in der G(K)rippezeit waren sie fertig, meine Galoschen. Mein erster
Schuh, der mir auch am rechten Fuß wie angegossen passt. Noch NIE hatte ich das
Gefühl, dass mich ein Schuh auch rechts umfängt und mir Halt gibt.
Weil aber das
Kugerl noch immer nicht am Berg oben ist, kamen natürlich bald die ersten
Kalamitäten in Form von „ungewohnt“, „spastisch“, „unten zu wenig, oben zu viel“,
„rechts zu steif, links zu weich“ und es folgten mehrwöchige Ausflugsfahrten
zum Schuhmacher, wo ich mittlerweile bereits beim Eintreten ins Geschäft von
allen mit dem Namen angesprochen werde.
Der Schuhmachermeister
bittet mich jedes Mal milde lächelnd auf seinen, einem Gynäkologenstuhl nicht
unähnlichen Sessel, und fordert mich auf, mich unten freizumachen. Er setzt sich
tiefer vor mich hin und streichelt mir beruhigend mit seinen warmen
Handwerker-Händen meine kalten, meist nicht gut pedikürten Zehen. Auch formt er
lustige Gebilde aus Silikon, schiebt sie mir unter den Fuß und wundert sich,
dass mir diese Knubbel große Freude bereiten. Mit meinen Worten „Tu nur, ich
hab’s gern hart“, steigt er letztlich kopfschüttelnd aus und erkundigt sich
peinlich berührt, ob wir eh noch von den Schuhen sprechen.
Seitdem hab
ich nichts mehr von ihm gehört. Er arbeitet noch immer hart an meinem Schuhwerk
– und hat sich aber hoffentlich noch nicht die Kugel gegeben, denn die schieb
ja noch immer ich den Berg rauf…
Fortsetzung
folgt.
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