Das hab ich vorher noch nie gesehen.

 

Ein Spaziergang durch die Stadt. Alle Geschäfte zu. Lockdown Nr. 3. Sie sind teilweise nicht nur vorübergehend zu, sondern wirklich für immer geschlossen. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Keine Kleiderständer und Schütten vor den Auslagen, keine Musik dringt auf die Straße, niemand flaniert herum; wenn ich einen Menschen treffe, so marschiert derjenige zielgerichtet irgendwohin. Keine automatischen Türen öffnen sich, wenn man zu nah an sie herankommt, Zeitungen liegen unbeachtet im Dreck in so manchem Eingang und keinerlei bunte Slogans mit Abverkaufswerbungen und Super-Sonder-Mega-Sales reizen meine Netzhaut. Die Stadt steht sogzusagen nackt vor mir.

Und wenn man so nackert ist, offenbart man ja so manches ansonsten Verborgene, das weiß jedes Kind. Auch bei Städten ist das nicht anders. Also sehe ich zum ersten Mal, dass es unfassbar viele Angebote an Therapiezentren, Ärzten, Alternativmedizinern und Tatooshops gibt. Auch offenbart sich mir eine wunderschöne Architektur, denn erstmals habe ich meinen Blick nicht nur auf Augenhöhe geschraubt, sondern erhebe ihn, um ihn an den Hausfassaden hochklettern zu lassen. Dort sieht man die prachtvollsten Häuser, geschmückt mit feinsten Ornamenten, interessante Fenster, hinter denen sich in meinem Kopf bereits ganze Kinofilme abspielen, für die ich eventuell sogar den Oscar kriegen würde, und wunderschön gestaltete Straßenabschnitte, die ich noch nie gesehen habe, obwohl ich schon tausendmal durch diese Straße gelaufen bin.

In einer zugeklebten Auslage erfahre ich über die Geschichte der Stadt so einiges, was mir bisher total fremd war: die internationale Mode etwa hielt in den 60er Jahren Einzug in der Stadt und „die ältere Generation konnte bei all den Miniröcken nur beschämt wegschauen“, kann man hier lesen. Oder dass der Kaiser Ferdinand und der Napoleon da waren und herumgefahren sind und Verträge unterzeichnet haben und dass Peter Tunner augenscheinlich kein Womanizer war. Und dass es ein Haus gibt, in dem der Scharfrichter wohnte und ich bis heute nicht weiß, wo zum Henker das sein sollte.

Nie hätte ich das alles gesehen, wenn das Leben normal weitergegangen wäre!

Und erst der Blick nach unten offenbart Sachen, ich kann euch sagen! In den Steinplatten am Boden des Hauptplatzes zieht sich ein Schriftzug vom Beginn bis zum Ende, wo genau festgehalten ist, wann die Stadt wie bezeichnet wurde. Nie hätte ich erfahren, dass Leoben „liebliche Gegend“ bedeutet, wenn ich weiterhin auf gleicher Höhe im angesagten Modemarkt geshoppt hätte, nie wäre ich drauf gekommen, dass die Stadt mal „Liubina“ und „Lewben“ geheißen hat, wenn ich weiterhin auf ein, zwei Bierchen ins Lokal inmitten der Häuserzeile gegangen wäre. Noch immer dumm wie eine Pflaume wäre ich, weil ich nicht wüsste, dass man Leoben mal „LeobM“ geschrieben hat, da ich mit meinen Mädels ins angesagteste Tanzlokal des oberen Murtals Gesäßwackeln gegangen wäre, ohne einen Blick nach unten zu wagen. So rein theoretisch.




Und dass mitten am Platz, rund um die Pestsäule, 6 rosafarbene Pimmel in die liebliche Gegend ragen, muss auch mal gesagt werden, obwohl ich sie vorher noch nie gesehen hab. Vielleicht sind’s auch nur harmlose kleine Säulen und ich bin etwas falsch fokussiert zurzeit…

Eventuell überleg ich mir das mit dem A…wackeln im Tanzpalast doch noch einmal – wenn dann das Ganze wieder vorbei ist und ich nicht mehr gezwungen bin, mich für die Geschichte der Stadt zu interessieren. Da kann man dann ja wieder schauen, welche Säulen in der Realität noch aufrecht stehen…

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