Der Herbst meines Lebens ist da. Na und?


Jetzt ist es soweit. Ich spüre den Herbst meines Lebens. Mein Sommer ist definitiv vorbei, der war streckenweise eh anstrengend genug mit all seinen Dürren und Stürmen, dem vielen Sonnenschein und der zu vielen und zu warmen Luft. Und jetzt ist er da, der goldene Herbst. Zeit die Ernte einzuholen, Zeit für Ruhe und Gelassenheit, Zeit für mich.

Na gut, ich geb’s zu – man muss sich ein wenig daran gewöhnen und sich manchmal die Dinge ein bisschen schönreden oder -saufen. Aber schließlich ist ja alles eine Frage der Perspektive, und es kommt immer darauf an, "welchen Wolf man füttert", wie es so schön heißt…



Eindeutige oder doch nicht so ganz eindeutige Hinweise für den Herbst sind zum Beispiel:

1) Zum Aufstehen in der Früh brauche ich mehrere Anläufe, um halbwegs schmerz- und knackfrei aus dem Bett zu kommen, ich drehe und wende mich ein paarmal, um mich in die richtige Position für die Vertikale zu bringen.

Na und? Ich hab schon immer sehr auf meinen Körper hören müssen und sehe dies als erste morgendliche Fitnessübungen zum Wachwerden an. Außerdem ist es ein Zeichen, dass ich in der Nacht nicht das Zeitliche gesegnet habe. Hätte ja auch passieren können.

2) Wenn ich in das regionale Einkaufszentrum gehe, muss ich mich immer wieder neu orientieren, weil sich die Geschäfte sehr rasant ändern, zu viele Schilder und Tafeln, Sachen und Krimskrams meinen Weg säumen, mich Lichter und Töne, Deko und Menschen irritieren. Wenn ein Geschäft die Regale neu gestaltet, werde ich krawutisch, weil sie mir mit der Produktsuche meine kostbare Lebenszeit stehlen und wenn es zwei Ausgänge gibt, weiß ich nicht mehr, von welcher Richtung ich gekommen bin.

Na und? So lerne ich immer wieder was Neues kennen und entdecke viele Dinge, die ich bei immer gleichem sturen Vor-Mich-Hingehen nicht gesehen hätte. Ich muss schließlich flexibel bleiben.

3) Ich steige völlig aus bei den Modeerscheinungen der Jugend, bei Musikvideos, Memes, TikToks, Insta-Stories und anderem Klamauk, das geht mir alles zu schnell, ist zu klein geschrieben und zu konzeptlos.

Na und? Muss ich mit über 50 so tun als sei ich 16? Mir brauchen diese Sachen ja nicht zu gefallen, ich weiß, dass es sie gibt. Das muss reichen.

4) Ich gehe mittlerweile mit den Hühnern schlafen. Nach Einbruch der Dunkelheit ist mit mir nicht mehr viel anzufangen. Vorglühen muss ich mit Kaffee, falls ich doch mal ein Event besuche und nach spätestens einer Stunde Sitzen gehören die Füße hochgelagert, sonst mutieren sie zu Elefanten. Zum Erholen danach brauche ich 2-3 Werktage.

Na und? Ich lege mich ins Bett, wann ich will und sehe dies als einen Teil meiner Freiheit an. Ich muss auch nicht bei jedem „Sauaustreiben“ dabei sein und schätze oft viel mehr ein heißes Bad mit guter Musik als lähmenden Smalltalk oder Gespräche, die ohnehin zu nichts führen.

Zu den weiteren herbstlichen Lüftchen gehören:

Für Kleinkinder habe ich so gar keine Nerven, die Zeitung lese ich schon lange mit Brille, die Zähne beiße ich mir mittlerweile bei Popcorn oder Nüsschen aus, die Daumengelenke schmerzen, wenn ich zu viel am Handy schreibe, mein Haar wird immer grauer, die Winkearme werden bald zu einem passablen Wingsuit, den Fernseher dreh ich bereits auf Lautstärke 19 auf und den Tag vertreibe ich mir mitunter mit interessanten Selbstgesprächen.

Ich bin teilweise grantig, ungeduldig und reizbar und habe Durchschlafstörungen und Herzstolpern. Meine Gynäkologin verneint einen hormonellen Zusammenhang, mein Shiatsu-Praktiker behandelt mein Holzelement (deshalb bin ich anscheinend so klapprig und steif wie Pinocchio), mein Zahnarzt verdient sich am Aufbau neuer Zahnwände eine goldene Krone und ein Neurologe hat mich jüngst in die Pension geschickt. Jetzt habe ich einen Pensionistenausweis. Das ist sexy.

Aber lasst Euch nicht verwirren, meine Lieben, es ist bloß der Herbst und noch lange nicht der Winter!

…Und nur weil auf dem Dach ein wenig Schnee liegt, heißt das nicht, dass in der Hütte kein Feuer mehr brennt!

Kommentare

  1. Super erkannt - ist mir alles nicht fremd 👍

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  2. Sehr treffend, wir wissen, welchen Wolf wir füttern

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    1. ....na ja, manchmal hat der andere, der böse Wolf, auch grossen Hunger und dann schmeiss ich ihm leider ein paar Häppchen hin.

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  3. Super, wie immer und vor allem wahr!🙂

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  4. r.pirstinger@gmail.com9. November 2023 um 18:52

    Viel kreativer als du kann man den Herbst des Lebens nicht beschreiben und bewältigen!

    Übrigens habe ich gerade "Die hinkende Lotta 2" gelesen - großartig!
    Da ist alles vorhanden: zum Lachen, zum Schmunzeln und zum Nachdenken!

    Behalte deinen Humor, lasse dich nicht unterkriegen und erlaube Frau Krönlein und Frau Spinada, dass sie dich auch in der Zukunft beeinflussen dürfen.
    Bringe deine Gedanken weiterhin zu Papier - ich freue mich schon auf dein nächstes Buch!

    Ganz liebe Grüße an dich
    Rudi
    Ich freue mich auf ein weiteres Buch
    Ganz liebe Grüße an dich
    Rudi

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    1. Lieber Rudi, vielen Dank für das tolle Feedback, das freut mich total! Viele Grüsse Christine

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