Weg vom Fenster?

Ein Mutter-Tochter-Ausflug in die Stadt gestaltete sich noch vor ein paar Jahren in etwa so: das Mütterlein, in dem Fall ich, sorgte sich um das passende Fortbewegungsmittel, erkundigte sich vorher ums Weiterkommen in der Metropole, machte sich schlau über Haltestellen, Distanzen, Fahr- und Eintrittskarten, plante den idealen Zeitpunkt und Ort für die Nahrungsaufnahme und sorgte fürs Unterhaltungsprogramm. Das Töchterchen tat nichts außer staunen und genießen.

Was in der Zwischenzeit geschah? Ich weiß es nicht. Denn nicht nur mein Jüngster ist mir ja bekanntlich über den Kopf gewachsen, sondern offensichtlich auch der Zeitgeist, der Fortschritt, die Gesellschaft und überhaupt das ganze moderne Leben, samt meiner Tochter. Dies wurde mir beim letzten Trip in unsere Landeshauptstadt wieder mal so richtig gezeigt, wobei noch zu klären wäre, ob ICH der unflexible Depp bei dieser Geschichte bin oder die Welt irgendwie immer vertrottelter wird.

Meine Tochter startet unseren Boliden in den frühen Morgenstunden, lässt mich am Beifahrersitz gemütlich Platz nehmen und chauffiert mich zielsicher in die steirische Landeshauptstadt. Das Navi nimmt sie zwar zu Hilfe, schaltet jedoch den Ton aus, da sie die Musik von ihrer Playlist hören will, die im Auto wie von Zauberhand mit dem Handy gekoppelt wird, wenn man sich dem Vehikel auch nur auf ein paar Metern nähert. Sie singt lautstark mit und kurvt herum wie eine Große. Bald sind wir angekommen, sofort ist ein Parkplatz gefunden, meine Hilfe, die sich darin gestaltet, dass ich den Straßennamen samt fahrbarem Untersatz fotografiere, lehnt sie ab, denn ihr Handy würde ihr ohnehin mitteilen, wo das Auto steht. Ähm… ok. Nehme ich mal so zur Kenntnis, fotografiere dennoch heimlich das Schild des alten Wirtshauses, vor dem sie geparkt hat, was uns ohnehin nicht weiterhelfen würde, da diese Winde seit Jahren unbewirtschaftet ist und auf keiner „Map“ mehr aufscheint, aber dies sei nur nebenbei erwähnt. Wir beschließen, öffentlich weiter zu fahren.

Meine Tochter lotst mich zielsicher zur Straßenbahn und während ich noch auf dem bitterkalten Metallbankerl in der Haltestelle meine Hämorriden aufgeile und das akribisch abgezählte Bargeld parat halte, das für die Fahrscheine nötig sein würde, bedient sie schon behände den Automaten in der Bahn. Ich suche vergebens nach einem Schlitz fürs Papiergeld und werde sogleich 4 Meter zurückgeschleudert, als die Straßenbahn akkurat in diesem Moment losfährt und ich ja bekanntlich wenig bis gar kein Gleichgewicht halten kann. Ich entschuldige mich bei dem jungen Herrn, auf dessen Schoß ich zu sitzen komme, richte mein Krönlein und meine Maske und nehme erneut Anlauf zum Fahrscheinautomat. Dort hat mein Töchterchen inzwischen in Windeseile mit ihrer Bankomatkarte die Tickets gekauft, und sie schiebt mich auf den nächsten freien Viererplatz. Erneut stolpere ich zum Fenster hin, da der Boden vor den Sitzen nicht etwa gerade ist, sondern hoch hinauf ansteigt. WTF! Warum nur? Warum baut man solche Stolpersteine in diese Wägen, wo ich mit angewinkelten Beinen zu sitzen komme und die Knie mir fast bis ins Gesicht reichen? Ich rege mich bald wieder ab, möchte ich doch schließlich auch die Fahrt ein bisschen genießen und Gegend schauen. Aber nichts da: man hat die Scheiben mit Punkten, gaaaaanz kleinen blöden Punkten verklebt. Was draußen los ist, kann man nur schemenhaft erkennen, von außen allerdings ergeben diese Punkte eine prima Werbefläche. Das ist wichtig. Und Fensterschauen tut heutzutage sowieso keiner mehr, man hat ja ein Handy.

Nachdem ich also nichts von dem mitbekomme, was außerhalb der Bahn passiert, möchte ich mich wenigstens an den Haltestellen-Informationstafeln etwas orientieren, schaffe aber auch das nicht, da diese in dermaßen kleinen Futzelbuchstaben geschrieben sind, dass ich mich direkt davorstellen und weit hinaufstrecken müsste, um etwas zu sehen. Und das würde ja bekanntlich wieder dazu führen, dass ich eventuell durch den Raum geschleudert werde… Himmel Herrschaft!

Wir besichtigen ein paar Socialmedia-Hotspots, meine Tochter versendet 23 Schnapp-Bilder, wo sie nicht etwa die Sehenswürdigkeit hinter sich fotografiert, sondern ihr eigenes Gesicht von allen Seiten und Richtungen. Währenddessen erkundigt sie sich immer wieder nach meinem Befinden, bietet mir ein Taschentuch an, wenn ich niese, trägt die schwere Wasserflasche und lotst mich letztendlich in eine hippe Lokalität, in der wir von einer in Englisch gehaltener Tafel aufgefordert werden, zu warten, bis wir zum Tisch geführt werden. Man erlaubt uns eine Stunde 16 Minuten im Restaurant zu bleiben, danach sei alles reserviert. Uff, welch ein Glück. Der Raum ist dunkel und kalt, die Stühle ungemütlich, über der Bar steht groß „shit happens“, von der Speisekarte versteht man wenig bis gar nichts (selbst wenn man mehreren Fremdsprachen mächtig ist), das Essbesteck schmeckt nach Eisen, die Servietten sehen aus wie aus dem zweiten Weltkrieg und das Lokal ist bummvoll mit Hipstern und Bobos. Und deren hippen Bobo-Kindern. Sie sitzen gelangweilt bei ihren organic scrambled eggs und shakshukas und wünschen sich ein kleines Bröserl mehr pur pur bread, weil das Zeug – was immer das auch sein mag – sehr scharf ist. Aber Hauptsache hip. … „Shit happens“, wie recht sie doch haben!



Wo sind die Lokale, wo man von einem Germknödel eine ganze Woche satt war? Wo gibt es noch die grünen Apfelzuckerl, von denen man eine weitere Woche einen blutenden Gaumen hatte? Wo sind die Geschäfte mit den Wühltischen, in denen man kopfüber auf Schnäppchenjagd gehen konnte? Warum tragen alle Sonnenbrillen, wenn gar keine Sonne scheint, warum gehen sie mit ihrem Kaffee in der Hand (und unglaublich viel Verpackungsmüll) spazieren? Und warum klingelt und piepst es immerzu und überall? Warum geben die alle nicht mal eine Ruhe und setzen sich auf Bankerl und beobachten die Schwäne?

Ich rülpse die Luft meines hippen Essens in meine Maske und während ich überlege, ob mir jetzt auch noch speiübel wird, wird mir klar: ich bin unflexibel, alt und eingefahren.

Oder haben die anderen den Klopfer? Und ist die Welt echt komplett vertrottelt?

Meine Tochter spürt meine Verzweiflung. Und nachdem sie sich von ihrem Lachflash wieder erholt hat, weil auch sie mich für unflexibel, alt und eingefahren hält, spendiert sie mir ein „Dreh und Trink“ und lotst mich zielsicher zum Auto, in das ich zufrieden einsteige und verklärt an diesen schönen Tag zurückdenke.

Kommentare

  1. Treffend und perfekt geschrieben und ich finde mich sofort wieder in deinen Worten. Ich wünschte dass mehr Menschen ihr Leben etwas entschleunigen würden und mehr auf die Natur und Ruhe achten.
    Ich hätte auch gerne wieder mehr von den alten normalen Lokalen. Auf alle Fälle Gratulation für den tollen Artikel.
    Lg
    Ute

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