Wer's glaubt...!

Ich bin mit sehr vielen, sehr schrägen Glaubenssätzen aufgewachsen. Diese rührten einerseits von einem gewissen, im Volk sehr verbreiteten Aberglauben, aber auch in festgefahrenen, nie richtig behirnten Ritualen oder Traditionen meiner Familie.

Kirschen

Kirschen waren meine ersten Feinde: Schon alleine der Verzehr war ein einziger zeitlicher Kampf, musste man doch das eventuell gleichzeitige Aufnehmen von Flüssigkeiten präzise koordinieren, damit die süße Frucht nicht zum bitteren Krampf werden würde. Zu Deutsch: niemals Kirschen essen und Wasser trinken! Der Teufel könnte einen holen. Man durfte weder eine Stunde vorher, noch eine Stunde nachher was trinken, schon gar nicht die Kirschen mit einem klaren Schluck in den Schlund befördern. So war es ein Drahtseilakt und bedurfte großer Planung, wenn Kirschenessen vom eigenen Baum angesagt war: Mutter schaute vom Fenster zu, wenn meine Freundinnen und ich uns zum Baum streckten, um ein paar Früchtchen zu ergattern. Sie machte eine genaue Flüssigkeitszufuhr-Anamnese und entschied dann mit einem Blick auf die Uhr, ob es denn schon angebracht sei, dieses vermaledeite Obst zu verzehren.

Und das war ja noch nicht alles, denn da war ja noch die Sache mit den Kernen. Spucken durfte man sie nicht oder nur in ganz seltenen, unbeobachteten Fällen und schlucken durfte man sie schon gar nicht, denn offensichtlich nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der 70er Jahre wuchs einem dann ein Kirschbaum aus dem Popo. Jawohl! Sie haben richtig gelesen. Nie traute ich mich einen Kern zu schlucken und wenn ich es tat, achtete ich besorgt die nächsten Tage, was wohl aus meinem Allerwertesten kam, ob nicht doch ein Zweig dabei war.

Zur Beruhigung: keinerlei Genuss von Wasser und Kirschen vor-, gleichzeitig oder nachträglich führte jemals auch nur zum kleinsten Ziepen in meinem Bauch. Auch auf einen rektalen grünen Zweig kam ich nie.

Zecken

Der nächste Mythos: Zecken fallen von den Bäumen und in die Schürzen der Mädchen. Naja, Schürzen… die trug man gerade noch am Dirndl zum Maisingen in der Volksschule, dann war’s mit ihnen auch schon vorbei. Das dürfte eine Mähr aus noch früheren Zeiten gewesen sein. Aber was, wenn die Zecken trotzdem auf die Köpfe fallen, in die Hosenbeine klettern, unter die Blusen kriechen und es sich in Achselhöhlen und anderen lauschigen Plätzen gemütlich machen?

Es gab die Zeckenimpfung, ok. Aber ich wurde nicht geimpft. Nicht ums Verrecken. Man ließ von Klein an einige wichtige Immunisierungen bei mir ohnehin nicht durchführen, weil sie für Spastiker angeblich sehr schädlich wären, also verschwendete man an so eine Pimperl-Impfung wie die gegen FSME natürlich nicht einmal einen einzigen Gedanken.

Blöd nur, dass ich in der Natur aufwuchs und mich vor jedem Baum fürchtete, unter den ich zum Stehen, Gehen oder Sitzen kam.

Noch viel blöder, dass die Zecken gar nicht auf Bäumen sind, sondern im Gras und ich mich offensichtlich zwar ständig auf der grünen Wiese in Sicherheit wog, ohne aber zu wissen, dass ich mich während meiner gesamten Kindheit und Jugend im Zeckensupergau befand.

Impfen ließ ich mich letztendlich das erste Mal in meiner Adoleszenz in Wien, wo ich mein Lebtag mit keinem Gras mehr in Verbindung kam. Spastik hin oder her.

Frisch gewaschene Haare

Wenn man von der Impfung nicht ins Grab biss oder mindestens eine noch schwerere Behinderung bekommen hätte, dann sorgte ein anderer Mythos aber ganz sicher für einiges Ungemach: mit nassen Haaren aus dem Haus gehen! Was für eine Gefahr! Nicht nur dass eine Verkühlung drohte, nein, es käme in so einem Fall ohne Wenn und Aber zu einer Hirnhautentzündung.

Man wusste genügend Beispiele von Leuten, die mit einem gewaschenen Kopf aus dem Haus sind und nicht mehr dieselben waren, als sie wieder heimkamen. Besonders tragisch war der Fall einer Ortsansässigen, die zum Friseur ging, dort nicht anständig geföhnt wurde und an einer Hirnhautentzündung verstarb. Das wollte man bei mir natürlich tunlichst vermeiden, weshalb ich immer am Vortag die Haare waschen und föhnen und anschließend sofort ins Bett gehen musste.

Als ich mir im flotten Teenager-Alter mal vor einem Onkel am Samstagabend die Haare föhnte und dieser mich fragte, wo ich denn heute noch hingehen würde, fiel ich aus allen Wolken. Ja, wusste der denn das nicht, dass man sich mit frisch gewaschenen Haaren sofort ins Bett legt und nicht mehr in die Disko geht? Ist denn der von allen guten Geistern verlassen? Wie kommt der auf so eine Idee, dass ich das Haus noch verlassen würde?

By the way: Nicht lange danach wurde es sehr modern, mit völligen nassen Haaren rauszugehen, dies war eine kurze Phase in den 80ern, bevor man das Haargel erfand. Scharenweise liefen sie alle mit nassen Köpfen ins Kino, zu den Feuerwehrfesten und in die Disko, nur die kleine Lotta lag mit ihrem riesigen, pufftrockenen Locken-Kurzhaar-Messerschnitt im Bett und sah am nächsten Tag aus wie ein Pop-Corn.

Spiegel schauen

Apropos Aussehen. Eitelkeit war auch so ein Thema, das nicht gern gesehen wurde. Eigentlich war alles, was nicht mit Anständigkeit, ehrlicher Arbeit und Gottesfurcht zu tun hatte, schon als solche zu bezeichnen.

Ein kurzer Blick in den Spiegel hatte genügt, was sofort meine Oma auf den Plan rief und mir schon als kleines Mädchen drohte: „tua net so viel Spiegel gama, da schaut dir der Gangerl raus!“ Als Übersetzung für alle, die des bäuerlichen Dialektes meines Wohnortes nicht mächtig sind: wenn man zu viel in den Spiegel schaut, kommt der Teufel raus.

Ich wollte mir ja bloß meine Zöpfe anschauen, ob sie noch halten, liebe Oma, oder einfach nur meine Wangen sehen, wie rot sie an manch heißen Tagen waren, oder auch nur schauen, ob ich schon gewachsen bin, denn dann wäre mein Kopf höher oben gewesen im Spiegel …. Aber nein! Ständig hatte ich Panik, welch‘ eine grässliche Höllengestalt mir jeden Moment entgegenspeien würde.

Irgendwie huschte ich auch später immer noch etwas verlegen bei Spiegeln in Kaufhäusern oder auf der Straße vorbei, das Teufelchen war mir lange hinterher und je älter ich werde, desto mehr kommt mir vor, Oma könnte Recht gehabt haben.

Schweißen

Mein Vater, der handwerklich und technisch durchaus begabt und kompetent war, erklärte mir, dass man niemals bei Schweißarbeiten zuschauen dürfe. Es hätte Fälle gegeben, wo Leute nur vom Hinschauen blind geworden wären.

Wir reden nicht von den Arbeitern selbst – die trugen ja einen Schutz, sondern von allen anderen Menschen, die etwa zufällig an der Straße vorbeikämen oder in einem vorbeifahrenden Auto oder Zug säßen und hinschauten.

Ich hielt mir bis ins hohe Teenager-Alter die Augen zu, wenn ich mich einer Baustelle näherte. Besonders gefährlich wurde dies, als ich selber schon den Führerschein hatte und am Steuer saß. Da war das Schweißgerät dann mein geringstes Problem.

Polarlichter

Und ich möchte gar nicht ausführen, was alles passiert, wenn man Polarlichter sieht. Es kommt ein Krieg, meine Lieben, ein Krieg!

Dass es zu den beeindruckendsten Naturschauspielen gehört, viele Leute weite Reisen unternehmen, um so etwas zu sehen und leider permanent irgendwo Krieg ist, steht auf einem anderen Blatt.

Schwangerschaft

Um die Schwangerschaft rankten sich auch die seltsamsten Mythen: „auf einem Fußballfeld wächst kein Gras“, hieß es, was so viel heißt wie: eine Frau, die mehrere Liebhaber hat, kriegt schwer ein Kind. Kann man sich so einen Schas vorstellen? Auf Fußballfeldern wächst durchaus Gras und promiske Frauen werden tatsächlich schwanger und das noch dazu mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit als jene, die nur zu Weihnachten und Ostern Fußballspieler zu Gast haben.

Und falls es dann mal soweit sein sollte mit der geglückten Empfängnis, ist es angeraten, dass man nicht zu Hasen geht oder diese womöglich auch noch streichelt, denn dann könnte das ungeborene Kind eine Gaumenspalte bekommen, volkstümlich auch „Hausenscharte“ genannt.

Wem dieser ganze Mumpitz immer noch nicht reicht, der achte darauf, dass keine Schwangere in ein offenes Feuer schaut, denn von dieser hanebüchenen Aktion haben die Nachkommen dann ein Feuermal mitten im Gesicht.

Nicht gewusst?

Nichts zu danken, ich helfe immer gerne, wenn es um mittelalterliche Aufklärung geht.

 

Zusammengefasst kann man sagen, dass es an ein Wunder grenzt, dass ich meine eigene Kindheit überlebt und selber gesunde Kinder auf die Welt gebracht habe.

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