Mein Onkelchen

 

Eine besonders interessante Erscheinung war mein Onkelchen. Also nicht mein richtiger Onkel, sondern eigentlich gar kein Blutsverwandter, den ich als Kind aber weder mit seinem Nachnamen ansprechen durfte – dies wäre zu unpersönlich gewesen – aber auch schon gar nicht bei seinem Vornamen, dies wäre wiederum zu frech rübergekommen. So behalf man sich in früheren Zeiten damit, dass man die Kinder lehrte, zu allen männlichen Bekannten der Familie „Onkel“ und zu den weiblichen „Tante“ zu sagen.

So kam ich also zu meinem Onkelchen.

Er war ein schräger Vogel, durch und durch: in seinen Bewegungen und Handlungen war er äußerst gemütlich, sein Bäuchlein, das in einer „Bauchhose“ samt Hosenträgern versteckt war, kam immer schon als erstes um die Kurve und seinen Hut hatte er wohl immer auf. Zumindest in meiner Erinnerung. Seine Hemden waren zerknittert, nur den Sattel und Kragen bügelte er, darauf legte er Wert, den Rest hielt er für vernachlässigbar.



Er saß oft stundenlag am Küchentisch meiner Oma und nippte an einem Gläschen Rotwein. Ab und zu zündete er sich eine Zigarette an und ließ die Asche in einem blechernen Aschenbecher, dessen Ablage sich auf Knopfdruck drehte, verschwinden. Dass binnen kürzester Zeit die Küche in einen dicken Nebel gehüllt war und mir der Rauch als Kind furchtbar in den Augen brannte, juckte damals noch niemand. Passivrauchen? Ich war aktiv dabei!

Onkelchen hatte auch eine gute Theorie für seinen gleichzeitigen Alkohol- und Nikotinkonsum: Nikotin verenge die Gefäße, weshalb er auch gleichzeitig trinken müsse, da Alkohol sie wieder weitet.

Dies war aber nicht sein einziges Credo, denn wenn man ihm nahelegte, doch ein bisschen schneller zu machen, rief er entsetzt aus: „Mein Gott, das Leben ist eine Hetzjagd!“

Als ihm irgendwann der Zahnarzt mehrere Zähne riss und er ein provisorisches Gebiss bekam, verhandelte er mit dem Doktor über das weitere Prozedere: Er brauche insgesamt bloß 8 Zähne, meinte er, vier für oben, vier für unten und man müsse sie auch nicht so eng setzen, es genüge, wenn sie regelmäßig auf den ganzen Mund aufgeteilt sein würden, damit er anständig beißen können würde. Ästhetik wäre ihm nicht so wichtig.

Da der Zahnarzt auf diese Groteske nicht einstieg, behielt Onkelchen Zeit seines Lebens das provisorische Gebiss fürs Ausgehen und für den Sonntag. Fürs Essen allerdings und für zuhause legte er es in ein Wasserglas und zerkleinerte die Mahlzeiten eigentlich relativ flink mit seinen „Bühlern“ (Kieferknochen). Auch sein Lächeln glich mit den Jahren immer mehr dem eines Babys, was Onkelchen recht ulkig aussehen ließ.

Seine Cholesterinwerte waren hoch, Onkelchen ernährte sich durchwegs von Surbraten-Semmeln und fettem Gasthausessen, weshalb er eine Diät machen sollte. Mit Putenfleisch und Becel-Margarine. Er tat es, wie man ihm befahl, doch in seiner tiefsten Brust hasste er diese toten Viecher und oft kam ihm ein „immer diese Rotkragen!“ über die Lippen. Dann schlich er sich heimlich zu Omas Kühlschrank und ließ geschwind das eine oder andere Scheibchen Speck oder Salami in seinem Schlund verschwinden.

Nichts desto trotz wurde er steinalt und pfiff angeblich noch auf seinem Sterbebett ein flottes Liedchen durch die zweite, vierte und sechste Zahnlücke.

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