Das andere Geschlecht und ein "Knigge"

Mein Mütterlein lehrte mich schon in frühen Jahren, dass man sich stets nach dem „Knigge“ richten müsse. Ein Benimm-Dich-Buch, das durchaus hilfreich sein kann, wenn man so gar keine Ahnung von Anstandsregeln hat oder plötzlich in Kreisen verkehren muss, in denen man es sonst nicht gewohnt ist, eine Gabel in die Hand zu nehmen. Eine Lektüre, die sich ständig selber überarbeiten muss, weil sich Sitten und Bräuche schneller ändern als einem Schamhaare wachsen. Manches war damals schon überholt und noch aus Mamas 50er/60er Jahren, manches konnte man aber durchaus noch verwenden und verinnerlichen. Bei all den Tischregeln, Du-Wort-Hierarchien und Begrüßungshandküssen war aber eines stets klar: eine Frau von Welt wirft sich niemals – niiiiiemals – einem Mann an den Hals. Vornehme Zurückhaltung ist angesagt, kein derbes Vordringen, keine besonders große Aktivität, begonnen beim Grüßen. Kurzum: Man darf nicht „Buama-narrisch“ sein.

Und so wartete ich eben ab. Ich wartete, bis mich ein Bursche auf der Straße grüßte, was selten bis gar nicht geschah, da diese den Knigge offenbar nicht gelesen hatten. Ich wartete, bis mich einer mal auf ein Eis einlud – vergebens! Dass mir einer meinen schweren Turnbeutel trägt, …. dass mich einer in einer unter der Straßenlaterne küsst – alles vergebens!

So musste eben doch ICH das Ruder in die Hand nehmen. Mein erster Versuch war der Kronawetter Wolfgang, ein Nachbarsbursch. Ein sportlicher Typ, 3 Jahre älter als ich, im Sommer stets mit einem gestreiften T-Shirt und seinem Bonanza-Rad unterwegs, lautstark „zicke zacke, zicke zacke, hoi, hoi, hoi“ rufend. Keine Ahnung, was das bedeutete, doch es machte Eindruck. Im Winter dann sah ich meine Chance: Wolfgang baute mutterseelenalleine eine Schneeburg. Ich nahm allen Mut zusammen und stapfte über die Straße zu ihm hin. Was sage ich bloß? Wie gehe ich das an? Darf ich als Mädchen das überhaupt?

„Baust du eine Schneeburg?“, fragte ich ihn mutig. „Ja!“, sagte er.

Dann ging ich zicke zacke wieder heim.


Oder der Feldburger Martin. Der ging – mit einem Riesenabstand – täglich mit mir zum selben Zug, um in die Bezirkshauptstadt zur Schule zu fahren. Er grüßte mich nicht, weil er wahrscheinlich schüchtern war, ich grüßte ihn nicht, weil ich eine Frau war und es laut Knigge nicht durfte, wir waren uns aber immer sympathisch. Als er eines Tages mit Skiern samt Stöcken schwer daher schleppte, riss ich mich erneut am Riemen und bot ihm meine Hilfe an, die er dankend annahm: ich trug ihm seine Ski. Nicht die leichten Stöcke, womit ihm auch schon geholfen gewesen wäre – nein! – die unhandlichen, schweren Ski warf ich mir auf meine schiefe Schulter. Ich, die ich selber noch nie mit Skiern umgehen konnte und eh schon genug damit kämpfte, mich selber und meinen Schulranzen fortzubewegen. Wir gingen also nebeneinander her, redeten wie immer kein Wort, und er verabschiedete sich ohne Dank mit einem „Pfiat di!“. Wenigstens da hat er mal gegrüßt. Was für ein Erfolg! Ein Pärchen wurde nie aus uns und meiner Mutter habe ich diese Geschichte, aus der ich eindeutig als „Buama-narrisch“ hervorgehen würde, NIE erzählt!

Aber es kam noch narrischer: In den Sommerferien, in denen ich mich meistens fadisierte, erhielt unser „Konsum“ einen neuen Filialeiter. Ein wunderschöner Mann, der mit seiner VoKuHiLa-Frisur schnittig in seinem Scirocco daher schoss und berufsbedingt sehr freundlich zu allen war. Meine Freundinnen und ich waren hin und weg, und wir stritten darüber, wer sich öfter eine Extrawurstsemmel mit Gurkerl kaufen dürfe als die andere. Roland hieß der Bursche, das bekamen wir von seinem Namensschild mit, und Raucher war er und nicht aus unserem Bezirk. Auch das konnten wir gut beobachten, taten wir doch etwas – und ich war beschämender Weise an vorderster „Buama-narrischer“ Front dabei – wofür man heutzutage angezeigt werden könnte: wir stalkten ihn. Wir saßen von in der Früh bis am Abend vorm Geschäft auf einer Bank, frisierten uns alle 10 Minuten die Haare und trugen Lipgloss auf, um schön zu sein, spielten laut Musik aus einem raunzenden Kassettenrekorder („Ich will Spaß“ von Markus) und kicherten, wenn wir ihn rauchen oder in sein Auto steigen sahen. Wir taten dies so intensiv, dass nicht nur er anfing, uns zu winken, sondern auch viele andere Männer in ihren Autos und auf den Mopeds und wir sozusagen bald zum Ortsbild gehörten wie die Kirche und der Rabenstein. Wir saßen dort, wenn sie in die Arbeit fuhren und nach 8 Stunden wieder nach Hause kamen, wir beobachteten das ganze Dorf, wann es mit wem wohin kutschiert, wussten, wenn jemand spät dran oder krank war, sahen neue Techtelmechtel kommen und alte wieder gehen und beobachteten, was und wie viel die Leute einkauften. Die einen fanden uns witzig, die anderen hassten uns. Wir knüpften sogar neue Kontakte, die uns aber nicht wichtig waren, denn wir hatten ja nur eine Mission und die hieß „Roland“.

Was aber dem Fass den Boden ausschlug, war, dass wir Roland nicht nur immer wieder Rosen aufs Auto legten, sondern uns – und ich natürlich wieder an vorderster Front mit dabei – ein fettes „R“ in den Unterarm ritzten. „Gib Salz in die Wunde“, war der Tipp von Eveline, „dann wird es eine ganz tiefe, schöne Narbe“. Wochenlang hatten wir alle ein „R“ auf der Hand, das zuerst wie blöd blutete, sich dann darüber eine unschöne Kruste bildete und schließlich tatsächlich über einen gewissen Zeitraum eine Narbe blieb, die Gott sei Dank wieder verschwand, bis ich meinen ersten wirklichen Freund hatte, der Fritz hieß und nicht Roland. Ich Buama-narrisch? Niiiiiie!

Einen letzten Versuch wagte ich dann noch zu Fasching. Dani und ich feierten in einem Gasthaus auf einem Gschnas und interessierten uns offensichtlich für denselben Typen, einen feschen Förstermann. Und irgendwie kam es, dass dieser Kerl mit dem Koch gut bekannt war und uns in die Küche mitnahm. Es sei gesagt, dass wir alle drei dort nichts verloren hatten, aber dennoch auf einem Stuhl in der Ecke Platz nahmen. Der Förster zumindest. Und er gab mir zu verstehen, dass ich mich auf seinen Schoß setzen sollte, was ich – Knigge, steh mir bei! – auch tat. Ich genoss den kurzen Augenblick, wurde der aufregenden Situation gewahr und kurz bevor es zu akuter Stressinkontinenz kam, verließ ich die Oberschenkel des Herrn Försters und rannte auf die Toilette.

Als ich zurückkam und es mir wieder an den Lenden des Küchenhockers gemütlich machen wollte, saß plötzlich Dani auf dessen Schoß. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und ihm war es anscheinend auch egal, dass jetzt eine andere Buama-narrische an seinen Knien reibt… Der Chef des Gasthauses warf uns übrigens kurz darauf alle aus der Küche und bis heute weiß ich nicht, ob der Förster ein echter war oder nur ein verkleideter Faschingsnarr.

Ach, hätte ich doch auf Mama und ihr Benimm-Dich-Buch gehört! Ich hätte mir viel Kummer erspart!

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