Psychotherapie in der Schneiderei
Es ist bald wieder soweit: ein Maturaball steht vor der Tür. Dieses Mal derjenige meines Kleinsten, der übrigens gefühlte zwei Meter 20 misst, und eine Erzählung über den Anzugeinkauf für so ein „Cornetto“ auch einen ganzen Blog füllen würde. Aber darum geht es hier heute nicht, sondern um meine eigene Garderobe. Die Mutter-Königin muss ja schließlich auch eingekleidet werden. Eine neue Robe muss her, die Kalamitäten mit meiner vorigen sind mir noch zu gut in Erinnerung, weshalb ich dieses Mal von vornherein in ein tolles Geschäft in die Landeshauptstadt fahre, dort auch blitzartig Dank meiner Shopping-Queen-Spürnasen-Tochter fündig werde und nun einen langen Traum in Glitzer und Spitze besitze. Einen etwas zu langen, was bei mir auch eher selten vorkommt. Also ab zur regionalen Schneiderin. Sie sollte die Länge so gestalten, dass ich weder über meine eigenen Hendlhaxn noch über den Stoff stolpere.
Vor
mir ist bereits eine Dame in der Umkleidekabine zugange, die ein Dirndl nach
dem anderen anprobiert und wilde Verhandlungen mit der Schneiderin
veranstaltet, damit diese wenigstens noch den einen oder anderen Millimeter
Reservestoff herausschinden würde. Die Schneiderin zupft schwitzend vorne,
hinten und seitlich, die Kundin transpiriert augenscheinlich noch mehr und
lässt in ihre Verhandlungen sogar den Vorschlag einfließen, dass sie im
schlimmsten Fall den BH weglassen würde. Dann wären wieder ein paar Millimeter
gewonnen.
Ach,
wie sie doch kämpfen und jammern, die beiden Damen, und mit einem tiefen
Seufzer zieht sich die Kundin wieder an und lässt mich als nächste in die
Garderobe. Während ich verzweifelt versuche, meinen eigenen, neu erstandenen
Traum zu verschließen, der beim Kauf komischer Weise noch nicht so gespannt hat,
hebt die Kundin ein Klagelied an: „Mein Gott, wie einfach das Abnehmen bei den
Stars immer ist – ich krieg nicht einmal 2 Kilos runter!“ Das ist der
Startschuss für meinen Auftritt. Für mich, die selbsternannte Botschafterin für
Body-Positivity. Die Klugscheisserin. Die Theoretikerin.
Ich
werfe ein paar Fragen in die Runde, auf die keiner eine Antwort weiß, und die
ganze Schneiderei verstummt blitzartig: „Warum schöpfen wir eigentlich nicht
aus dem Vollen, es ist so viel Gutes an Nahrungsmitteln vorhanden, wir könnten
es so schön haben, wenn wir ohne schlechtes Gewissen einfach nur genießen
würden. Warum gibt es nach wie vor so viele Essstörungen – nicht nur bei jungen
Menschen? Warum glauben wir noch immer, dass „schlank sein“ auch „schön sein“
bedeutet? Und warum kommen dann alle immer mit dem Argument, dass Dicke mehr
volkswirtschaftlichen Schaden anrichten als Dünne? Es gibt auch genug
Hungerhaken, die’s schon in die Windeln prackt hat.“
Die
Kundin, die ohne Hemmungen auch ohne Büstenhalter beim nächsten Erntedankfest
in der Kirche auftreten würde, verlässt schlagartig die Schneiderei mit einem
verzweifelten „Jo eh“-Seufzer, während ich auf ein Stockerl gestellt werde,
damit man das Kleid ordentlich besprühen und abstecken kann. Da steht auch
schon die nächste Kandidatin am Tresen und beginnt für mein Kleid zu schwärmen.
Wie schön es doch sei und zu welchem Ball ich gehen würde. Als ich ihr
mitteile, dass es der Maturaball sei, meint sie traurig, sie könne auf keinen
Ball mehr gehen, weil sie einen Stock habe. Ich erkläre ihr, dass auch ich beim
Gehen meine Probleme hätte, und frage sie, warum sie denn glaube, dass sie mit
einem Stock keinen Ballsaal betreten dürfe. Das wäre mir neu. Sie meint darauf,
sie könne ja nicht tanzen und bei mir wäre es wahrscheinlich ja auch so, oder?
Ich gebe ihr Recht, dass ich zwar keine flotte Polka aus dem Bein schüttle,
versichere ihr aber: „Solange ich noch ein Glas heben und mit Leuten anstoßen
und sprechen kann, wird mich nichts und niemand aufhalten, einen Ballsaal zu
betreten. Man muss mit dem, was man hat, arbeiten und nicht immer dem
nachjammern, was nicht mehr geht“ Die Kundin nickt betroffen und wirft mir
einen mitleidigen Blick auf mein Gangbild nach.
Danach
verlasse ich die Schneiderin und bin noch beim Ausgang sehr stolz auf meine
Lebensweisheit und Stärke. Aber schon an der nächsten Ecke ist sie wieder da ….
meine Angst, meine blöde Angst…. dass auch mein Bauch zu dick ist und dass auch
ich furchtbar hatschen werde am Ball und dass ich nicht genüge, so wie ich bin…
Aber
dennoch werde ich mich in mein Königinnen-Kleid pressen und unendlich dankbar
und gerührt über meinen Kleinsten sein, wenn er tanzend in den Ballsaal
einzieht.
Im
Notfall trete ich dafür sogar mit einem Stock auf und lasse den BH weg – solche
Accessoires werden ohnehin überbewertet.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen